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    Vom Dialekt zur Nationalsprache

    Dante
    © D. Trolli/Shutterstock.com
    Von Sara Cavallari

    Vom Dialekt zur Nationalsprache: Die Entwicklung des Italienischen folgte einem in der Sprachgeschichte eher unüblichen Muster. Es entstand nicht, weil eine bestimmte politische Macht die Vorherrschaft erlangte und den eroberten Gebieten die eigene Sprache aufzwang, sondern behauptete sich dank seiner künstlerischen und literarischen Überlegenheit. Wie sich die moderne italienische Sprache aus einem Dialekt des Vulgärlateins heraus entwickelte, welche Rolle dabei der Literatur zukam und wie es mit den Dialekten in Italien heute steht – das erfahren Sie in diesem Artikel.

    Die Entstehung der italienischen Sprache

    Wie viele andere europäische Sprachen hat sich auch das Italienische ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. aus dem gesprochenen Latein – das im Mittelalter zu Vulgärlatein wurde – entwickelt: Es zählt also zu den sogenannten romanischen Sprachen. Anders als andere Sprachen blieb das Italienische jedoch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hauptsächlich eine Schriftsprache und wurde erst ab diesem Zeitpunkt auch im mündlichen Sprachgebrauch zunehmend verwendet, bis es schließlich zur Nationalsprache wurde. Warum dauerte dieser Prozess so lange und mit welchen anderen Sprachvarietäten musste das Italienische konkurrieren?

    Aus dem Vulgärlatein entwickelten sich gleichzeitig alle in Italien noch heute gesprochenen Dialekte: In jeder italienischen Region wurde im 14. Jahrhundert eine andere dialektale Variante des Vulgärlateins gesprochen. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine einheitliche Nationalsprache. Das moderne Italienisch bildete sich allmählich auf der Grundlage einer dieser vielen Dialekte: das Florentinische, besser gesagt die florentinische Schriftsprache. Diese genoss in den Augen vieler Literaten, Künstler, Wissenschaftler und Intellektueller ganz Italiens ein unvergleichliches Prestige.

    Non si può dire che sia veramente lingua, alcuna favella che non ha scrittore.
    (Pietro Bembo)

    Grund dafür waren die Werke der drei bedeutendsten florentinischen Literaten des 14. Jahrhunderts: Dante Alighieri (1265 -1321) (im Bild oben), Francesco Petrarca (1304-1374) und Giovanni Boccaccio (1313-1375) – auch „die drei Kronen“ genannt. Auf der Basis ihrer Schriften (die wichtigsten: Dantes La Divina Commedia, Petrarcas Canzoniere und Boccaccios Decamerone) wurden im 16. Jahrhundert die ersten Wörterbücher und Grammatiken des Italienischen geschrieben. Die wichtigste Grammatik der Renaissance mit dem Titel Prose della volgar lingua wurde 1525 von dem Humanisten Pietro Bembo in Venedig veröffentlicht. Sie war das Ergebnis einer 25 Jahre andauernden Vorbereitung: Hier wurde das Primat des Florentinischen über die restlichen in Italien gesprochenen Sprachvarietäten zum ersten Mal schriftlich festgelegt.

    Einen weiteren Meilenstein in der Geschichte der italienischen Sprache markierte der mailändische Schriftsteller Alessandro Manzoni (1785-1873), dessen erste Fassung des Meisterwerks I Promessi Sposi 1827 erschien (die endgültige Fassung folgte 1840). Sein Ziel war es, sich von der als künstlich und unspontan empfundenen Sprache der traditionellen Prosa zu lösen, um sich der authentischeren, gesprochenen Sprache der florentinischen Bildungsschicht zu bedienen. Um die Sprache seines Werkes zu perfektionieren, fuhr Manzoni sogar nach Florenz. Auf ihn ist die bekannte italienische Metapher sciaquare i panni in Arnodie Wäsche im Fluss Arno ausspülensciaquare i panni in Arno zurückzuführen: Die Wäsche ist dabei ein Symbol für die Sprache seines Werkes, die im Fluss Arno, also in der Stadt Florenz, aufgefrischt werden soll. Eine entscheidende Rolle bei der sprachlichen Revision des Textes spielte auch seine aus Florenz stammende Gouvernante Emilia Luti: Unermüdlich wies sie den Schriftsteller auf die florentinische Variante einiger Wörter und Ausdrücke hin. 20 Jahre lang feilte Manzoni an seinem Werk. Das Ergebnis ist eine lebendige und homogene Sprache, größtenteils wie wir sie heute kennen.

    L'uso è l'unica causa che faccia le parole buone, vere, legittime, parole di una lingua.
    (Alessandro Manzoni)

    Sie blieb bis zum Ende des 19. Jahrhunderts jedoch nur den wenigsten, gebildeten Italienern vorenthalten. Man stelle sich vor, dass 1861, mit der Ausrufung des italienischen Königreichs, lediglich 10 % der Bevölkerung das Hochitalienische beherrschte und 75 % der Italiener Analphabeten waren. Erst mit der flächendeckenden Einführung der Pflichtschule, der Verbreitung der Massenmedien und der Massenliteratur sowie der Vermehrung der internen Migrationsflüsse erreichte das Italienische alle Bevölkerungsschichten. So begann das Hochitalienische sich mit den verschiedenen lokalen Dialekten zu vermischen oder sie zu ersetzen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte dieser Prozess als beendet erklärt werden: Das Italienische wurde zum allgemein anerkannten und alltäglichen Kommunikationsmittel Italiens.

    Die italienischen Dialekte

    Die sprachliche Landkarte Italiens ist noch immer von einer Vielzahl an Dialekten geprägt, die Wortschatz, Aussprache und Intonation der Italiener prägen. Können Sie vielleicht die Aussprache eines Sizilianers von der eines Florentiners oder eines Venezianers unterscheiden? Das standardisierte Hochitalienisch ist eine reine Schriftsprache und beschränkt sich auf den Gebrauch in formellen Situationen. Im informellen Sprachgebrauch herrschen dagegen regional eingefärbte Varietäten des Italienischen oder gar Dialekte vor. Diese Situation wird in der Sprachwissenschaft Diglossie genannt. Obwohl die Dialekte häufig im privaten Bereich verwendet werden, hört man sie manchmal auch in der Öffentlichkeit. Dabei kann man einen Wandel erkennen: Sie werden immer seltener als minderwertig oder als Symbol für Bildungsferne empfunden, immer öfter stattdessen als Stilmittel, die einer Aussage Vitalität, Kraft und Expressivität verleihen. Sogar der Papst hat einmal in einer Rede den römischen Dialekt benutzt!

    Die italienischen Dialekte lassen sich in drei große Familien einteilen: die nördlichen Dialekte (dialetti dell‘area settentrionale), die mittleren und toskanischen Dialekte (dialetti dell’area toscana e mediana) und die südlichen Dialekte (dialetti dell‘area meridionale). In diesen drei Gruppen lassen sich jeweils weitere kleinere Gruppen unterteilen und hier wiederum unzählige weitere Dialekte. Die Grenzen sind nicht klar definierbar: Sogar innerhalb derselben Stadt kann es Unterschiede geben! Es kommt durchaus vor, dass zwei Italiener aus verschiedenen dialektalen Regionen einander nicht verstehen.

    Zum Abschluss können Sie hier eine legendäre Filmszene aus dem Film Totò, Peppino e la Malafemmina (1956) sehen, in der zwei Neapolitaner zum ersten Mal in Mailand sind und mit den (nicht nur) sprachlichen Unterschieden zu kämpfen haben.

     

     

    Sie interessieren sich für italienische Geschichte und Literatur?

    In unserer Rubrik „Svolte“ stellen wir Ihnen Wendepunkte und Sternstunden aus der italienischen Geschichte vor.
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